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The Project Gutenberg EBook of Märchen für Kinder, by Hans Christian Andersen
This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
with this eBook or online at www.gutenberg.org
Title: Märchen für Kinder
Author: Hans Christian Andersen
Illustrator: Nikolai Karasin, A. Zick, P. Schnorr, F. Reiß, E. Klimsch, E. Kepler, M. Flashar, H. Effenberger
Translator: Paul Arndt
Release Date: September 3, 2006 [EBook #19163]
Language: German
Character set encoding: UTF-8
*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MÄRCHEN FÜR KINDER ***
Produced by Louise Hope, Markus Brenner, Juliet Sutherland
and the Online Distributed Proofreading Team at
http://www.pgdp.net
H. C. Andersens
MÄRCHEN FÜR KINDER.
Frei nach der Reclamschen Ausgabe bearbeitet
von
Paul Arndt.
Mit 5 Buntbildern von N. _Karasin_, sowie
40 Textillustrationen
von A. Zick, P. Schnorr, F. Reiß, E. Klimsch,
E. Kepler, M. Flashar, H. Effenberger etc.
Neunte Auflage.
[Illustration/Abbildung: Loewes Verlag]
Stuttgart
Loewes Verlag
Ferdinand Carl.
Druck von _Carl Hammer_ in Stuttgart.
Märchengruß.
[Abbildung/Illustration: capH_iii.png]
_Hans Andersen, der Märchendichter_,
Nennt man ihn nur, landaus, landein;
Da lachen strahlende Gesichter,
Da jubeln Bub’ und Mägdelein!
Ihm sang und klang, ihm lebt’ und lachte,
Was anderer Ohr und Auge tot,
Das Seelenlose fühlt’ und dachte
Und ward beseelt, -- wenn er gebot.
Den er gepflückt im Wunderlande,
Den allerschönsten Märchenstrauß,
Geknüpft mit rot und weißem Bande,
Streut’ einst er in die Welt hinaus.
Und aus dem Strauß die zart’sten Triebe,
Die er bestimmt der _Kinderschar_,
Sind hier gesammelt euch zuliebe;
Wir bieten sie euch freudig dar.
Längst ist er schon von uns gegangen,
Der Dichter, der den Kindern lieb,
Doch leben noch in Jugendprangen
Die _Märchen_, die für euch er schrieb.
Sie klingen fort und werden klingen
Unsterblich noch in später Zeit,
Und sich wie gold’ne Fäden schlingen
Um Kind und Märchenherrlichkeit.
Des _grauen Entleins_ Abenteuer,
Der _Zinnsoldat_, auf einem Bein
Standhaft im Wasser und im Feuer,
Die _Schwäne_ und ihr Schwesterlein;
Das Märlein von dem _Tannenbaume_,
Vom _Koffer_, der die Luft durchschwirrt,
Vom _Sandmann_ und Klein-Hjalmars Traume,
Vom _Tölpelhans_, der König wird.
Sie wollen plaudern, wollen scherzen,
Sie wollen bei euch Kindern sein,
Und dringen in die Kinderherzen
Mit ernster Lehre mahnend ein. --
So macht dem luftigen Gelichter
Ein Heim in Herz und Haus bereit,
Und seid gegrüßt vom Märchendichter,
Die ihr ja selber Märchen seid!
Inhalts-Übersicht.
Seite
Däumelieschen 1
Die Störche 8
Der fliegende Koffer 11
Der Schneemann 15
Es ist ein Unterschied 18
Das Feuerzeug 20
Das häßliche Entlein 25
Die Stopfnadel 31
Tölpelhans 33
Fünf in der Schote 36
Das Märchen vom Sandmann 38
Die Theekanne 45
Die Blumen der kleinen Ida 46
Das kleine Mädchen
mit den Schwefelhölzern 50
Die wilden Schwäne 52
Die glückliche Familie 61
Der Engel 63
Der standhafte Zinnsoldat 65
Des Kaisers Nachtigall 68
Die Schneekönigin 74
Fliedermütterchen 91
Der Tannenbaum 97
Das alte Haus 103
Der Buchweizen 107
Die roten Schuhe 109
Däumelieschen.
[Abbildungen/Illustrations: capH1.png, pic3.jpg]
Hilfe suchend kam einmal eine Frau zu einer alten Hexe und fragte sie,
ob sie ihr nicht ein kleines Mädchen verschaffen könnte.
„O ja, das soll nicht schwer halten!“ sagte die Hexe. „Da hast du ein
Gerstenkorn; das ist nicht etwa von der Art, wie es auf einem
Bauernfelde wächst, oder womit die Hühner gefüttert werden. Lege es in
einen Blumentopf, dann wirst du etwas zu sehen bekommen!“
„Besten Dank!“ sagte die Frau und gab der Hexe ein Geldstück, ging dann
heim, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs eine große herrliche
Blume hervor, die vollkommen einer Tulpe glich, aber die Blätter
schlossen sich fest zusammen, als ob sie noch in der Knospe wären.
„Das ist eine schöne Blume!“ sagte die Frau und küßte sie auf die
herrlichen roten und gelben Blätter, aber wie sie sie noch küßte, that
die Blume einen großen Knall und öffnete sich. Es war, wie man nun sehen
konnte, eine wirkliche Tulpe; aber mitten in der Blüte, auf dem grünen
Blumengriffel, saß ein winzig kleines, blondlockiges Mädchen, fein und
lieblich. Sie war nicht größer als ein Daumen, und deswegen wurde sie
_Däumelieschen_ genannt.
Eine prächtige, lackirte Wallnußschale erhielt sie zur Wiege, blaue
Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett.
Darin schlief sie des Nachts, aber am Tage spielte sie auf dem Tische.
Die Frau hatte einen Teller darauf gestellt, um den sie einen ganzen
Kranz Blumen gelegt hatte, deren Stengel in das Wasser reichten. Hier
schwamm ein großes Tulpenblatt und auf diesem durfte Däumelieschen
sitzen und von der einen Seite des Tellers bis zur andern schwimmen.
Zum Rudern hatte sie zwei weiße Pferdehaare. Das sah unbeschreiblich
niedlich aus. Sie konnte auch singen, o so fein und lieblich, wie man
nie zuvor gehört hatte.
Eines Nachts, als sie in ihrem hübschen Bettchen lag, kam durch das
Fenster, in dem eine Scheibe zerbrochen war, eine häßliche Kröte
hereingehüpft; sie hüpfte gerade auf den Tisch hernieder, wo
Däumelieschen lag und unter dem roten Rosenblatte schlief.
„Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!“ sagte die Kröte, und dann
ergriff sie die Wallnußschale, in der Däumelieschen schlief, und hüpfte
mit ihr durch die Scheibe in den Garten hinunter.
Da floß ein großer, breiter Bach; aber dicht am Ufer war es sumpfig und
morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war eben so
garstig und häßlich, das ganze Ebenbild seiner Mutter. „Koax, Koax,
breckekekex,“ war alles, was er sagen konnte, als er das hübsche, kleine
Mädchen sah.
„Schwatz’ nicht so laut, sonst wacht sie auf!“ sagte die alte Kröte,
„sie könnte uns sonst noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein
Eiderflaum! Wir wollen sie in den Bach hinaus auf eines der breiten
Wasserlilienblätter setzen, das ist für sie, die so leicht und klein
ist, wie eine Insel. Da kann sie nicht entlaufen, während wir den
Festsaal unten tief unter dem Sumpfe, wo ihr wohnen und leben sollt,
in Stand setzen.“
Die alte Kröte schwamm nun nach einem der großen, grünen Blätter, welche
inmitten des Baches aus dem Wasser ragten, als ob sie darauf schwämmen,
und setzte die Nußschale mit Däumelieschen auf dasselbe nieder.
Das arme kleine Mädchen erwachte beim ersten Morgengrauen, und da es
wahrnahm, wo es war, fing es gar bitterlich an zu weinen, denn Wasser
umgab von allen Seiten das große grüne Blatt.
Die alte Kröte saß unten im Sumpfe und schmückte ihr Zimmer mit Schilf
und gelben Wasserlilien, denn für die neue Schwiegertochter sollte
alles auf das Feinste hergerichtet werden. Darauf schwamm sie mit dem
garstigen Sohne zu dem Blatte hinaus, wo Däumelieschen stand. Die alte
Kröte verneigte sich vor ihr bis tief ins Wasser hinein und sagte: „Hier
stell’ ich dir meinen Sohn vor, der dein Mann werden soll. Ihr werdet
unten im Sumpfe ganz prächtig wohnen.“
„Koax, Koax, breckekekex!“ war alles, was der Sohn sagen konnte. Darauf
schwamm die alte Kröte mit ihrem Sohn fort und sie nahmen Däumelieschens
Bett für die neue Ausstattung gleich mit. Da saß das arme kleine Mädchen
und weinte heiße Thränen auf das grüne Blatt hinab, denn sie wollte
weder bei der häßlichen Kröte wohnen, noch ihren häßlichen Sohn zum
Manne haben. Die kleinen Fische, welche unten im Wasser schwammen,
hatten die Kröte recht wohl gesehen und gehört, was sie sagte. Sie
wollten Däumelieschen gern vor der Kröte und ihrem häßlichen Sohne
retten und nagten mit ihren scharfen Zähnen den Stiel des Blattes ab und
nun schwamm das Blatt mit Däumelieschen hinab, weit, weit fort, wohin
die Kröte nicht gelangen konnte.
Däumelieschen segelte an gar vielen Städten vorüber, und die kleinen
Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: „Welch niedliches
kleines Mädchen!“ Weiter und immer weiter schwamm das Blatt mit ihr;
so reiste denn Däumelieschen ins Ausland.
Ein allerliebster kleiner Schmetterling wurde nicht müde sie zu
umflattern und schwebte endlich auf das Blatt hernieder, denn er konnte
Däumelieschen gar wohl leiden. Diese war hoch erfreut, denn die Kröte
konnte sie jetzt nicht mehr erreichen, und es war köstlich, wo sie
segelte. Die Sonne schien auf das Wasser und dieses glänzte wie
schimmerndes Gold. Da nahm sie ihren Gürtel, schlang das eine Ende
desselben um den Schmetterling und befestigte das andere am Blatte. Das
glitt jetzt weit schneller das Wasser hinunter und sie mit, denn sie
stand ja auf dem Blatte.
Plötzlich kam ein großer Maikäfer angeflogen, der sie gewahrte und
augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib schlug und mit ihr
auf einen Baum flog. Aber das grüne Blatt schwamm den Bach hinab und der
Schmetterling flog mit, denn er war an das Blatt gebunden und konnte
sich auch nicht befreien.
Gott, wie sehr erschrak das arme Däumelieschen, als der Maikäfer mit ihr
auf den Baum hinaufflog! Am meisten betrübte sie jedoch der Gedanke an
den schönen, weißen Schmetterling, den sie an das Blatt gebunden hatte.
Konnte er nicht loskommen, mußte er ja rettungslos verhungern.
Der Maikäfer setzte sich mit Däumelieschen auf das größte Blatt des
Baumes, speiste sie mit dem Blütenhonig und sagte ihr, sie wäre sehr
schön, obgleich sie einem Maikäfer in keinem Stücke ähnelte. Später
kamen noch viele Maikäfer zu Besuch; sie beguckten Däumelieschen von
allen Seiten und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und
sagten: „Sie hat ja nur zwei Füße; das sieht doch zu jämmerlich aus!“
„Wie häßlich sie ist!“ sagten auch die alten Maikäferfrauen, und
trotzdem war Däumelieschen so schön. So kam sie auch dem Maikäfer vor,
der sie entführt hatte, da aber alle anderen darin übereinstimmten, sie
wäre häßlich, so glaubte er es zuletzt ebenfalls und wollte sie nun gar
nicht haben; sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr vom
Baume hinunter und setzten sie auf ein Gänseblümchen. Da weinte sie,
weil sie so häßlich wäre, daß sie nicht einmal die Maikäfer unter sich
dulden wollten.
Während des ganzen Sommers lebte Däumelieschen ganz allein in dem großen
Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem
großen Klettenblatte auf, so daß sie gegen den Regen geschützt war.
Blütenhonig war ihre Speise und ihren Durst stillte sie an dem Tau, der
morgens auf den Blättern stand. So verstrich Sommer und Herbst, aber nun
kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die ihr so schön
vorgesungen hatten, flogen ihrer Wege, die Bäume und Blumen welkten
dahin; das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte
zusammen, und es blieb nur noch ein gelber, vertrockneter Stengel. Sie
fror bitterlich, ihre Kleider waren zerrissen und sie selbst war gar
fein und klein; das arme Däumelieschen mußte erfrieren. Es begann zu
schneien und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, that dieselbe Wirkung,
als wenn man auf uns eine Schaufel voll wirft, denn wir sind groß, sie
aber war nur einen Daumen lang. Da hüllte sie sich in ein verwelktes
Blatt, aber das erwärmte sie nicht; sie zitterte vor Kälte.
Hart am Saume des Waldes, wohin sie jetzt gelangt war, lag ein großes
Kornfeld, allein das Korn war längst eingeerntet, nur die nackten,
trockenen Stoppeln ragten aus der gefrorenen Erde hervor. Ihr kamen sie
wie ein großer Wald vor, den sie zu durchwandern hatte, und sie
klapperte nur so vor Kälte. Da kam sie vor die Thür der Feldmaus. Deren
ganzes Reich bestand in einer kleinen Höhle unter den Kornstoppeln. Dort
wohnte die Feldmaus geschützt und behaglich, hatte die ganze Stube voll
Korn und eine prächtige Küche und Speisekammer. Das arme Däumelieschen
stellte sich an die Thür, gerade wie jedes andere Bettelmädchen, und bat
um ein kleines Stückchen Gerstenkorn, denn sie hatte seit zwei Tagen
nicht das Geringste zu essen bekommen.
„Du arme Kleine!“ sagte die Feldmaus, denn es war im Grunde genommen
eine gute, alte Feldmaus, „komm’ in meine warme Stube herein und iß mit
mir!“
Da sie nun Gefallen an Däumelieschen fand, sagte sie: „Du kannst getrost
den Winter über bei mir bleiben, aber du mußt mir die Stube hübsch
sauber halten und mir Geschichten erzählen, denn das ist meine Lust!“
Däumelieschen that, was die gute, alte Feldmaus verlangte und hatte es
ganz vortrefflich bei ihr.
„Nun bekommen wir gewiß bald Besuch!“ sagte die Feldmaus. „Mein Nachbar
pflegt mich täglich zu besuchen. Der hat noch mehr vor sich gebracht,
als ich, hat große Säle und geht in einem herrlichen schwarzen
Sammetpelze einher. Könntest du den zum Manne bekommen, dann wärest du
gut versorgt.“
Doch Däumelieschen mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein
Maulwurf. Er kam und machte in seinem schwarzen Sammetpelze seine
Aufwartung. Er wäre sehr reich und sehr gelehrt, sagte die Feldmaus.
Seine Wohnung war auch in der That zwanzigmal größer als die der
Feldmaus, und Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die herrlichen
Blumen konnte er gar nicht leiden; über sie wußte er nur Schlimmes zu
erzählen, weil er sie nie gesehen hatte.
Er hatte sich vor Kurzem einen langen Gang von seinem bis zu ihrem Hause
durch die Erde gegraben; in ihm durfte die Feldmaus und Däumelieschen
mit seiner Erlaubnis nach Herzenslust spazieren. Er bat sie aber, nicht
vor dem toten Vogel zu erschrecken, der im Gange läge. Es war ein ganzer
Vogel mit Federn und Schnabel, der erst kürzlich beim Beginn des Winters
gestorben sein konnte und nun gerade da begraben war, wo er seinen Gang
angelegt hatte.
Der Maulwurf nahm ein faules Stück Holz in das Maul, weil es im Dunkeln
wie Feuer schimmert, ging dann voran und leuchtete ihnen in dem langen,
finsteren Gange. Als sie zu der Stelle gelangten, wo der tote Vogel lag,
drückte der Maulwurf mit seiner breiten Nase gegen das Gewölbe und stieß
die Erde auf, so daß ein großes Loch entstand, durch welches das Licht
hereinschimmerte. Mitten auf dem Boden lag eine tote Schwalbe, die
schönen Flügel fest an die Seite gedrückt, die Beine und den Kopf unter
die Federn gezogen. Der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben.
Däumelieschen hatte inniges Mitleid mit ihr, sie liebte alle die kleinen
Vögel, hatten sie ihr doch den ganzen Sommer hindurch so schön etwas
vorgesungen und vorgezwitschert, aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen
kurzen Beinen und sagte: „Nun pfeift er nicht mehr! Es muß doch
jämmerlich sein, als kleiner Vogel geboren zu werden! Außer seinem
„Quivit“ hat ja ein solcher Vogel durchaus nichts und muß im Winter
elendiglich verhungern!“
„Ja, das könnt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen!“ entgegnete die
Feldmaus. „Was hat ein Vogel für all sein Quivit, wenn der Winter kommt?
Er muß elendiglich verhungern und erfrieren.“
Däumelieschen sagte nichts, als aber die beiden andern dem Vogel den
Rücken wandten, neigte sie sich hinab, schob die Federn, die über seinem
Kopfe lagen, zur Seite und küßte ihn auf die geschlossenen Augen.
„Vielleicht war er es, der mir im Sommer so schön etwas vorsang,“ dachte
sie, „wie viel Freude hat er mir verschafft, der liebe, schöne Vogel.“
Der Maulwurf stopfte nun das Loch, durch welches das Tageslicht
hineinschien, wieder zu und begleitete die Damen nach Hause. Aber in der
Nacht konnte Däumelieschen schlechterdings nicht schlafen. Da erhob sie
sich von ihrem Bette und flocht aus Heu einen großen, schönen Teppich,
trug ihn hinunter, breitete ihn über den toten Vogel aus und legte
weiche Baumwolle, die sie im Zimmer der Feldmaus gefunden hatte, dem
Vogel zur Seite, damit er warm liegen möchte in der kalten Erde.
„Lebewohl, du lieber schöner Vogel!“ sagte sie; „Lebewohl und Dank für
deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die
Sonne auf uns so warm hernieder schien!“ Dann legte sie ihr Köpfchen an
des Vogels Brust, fuhr aber sogleich erschrocken zusammen, denn es war
fast, als ob etwas in derselben klopfte. Das war des Vogels Herz. Der
Vogel war nicht tot, er lag nur in einer Betäubung, war jetzt erwärmt
worden und bekam wieder Leben.
Im Herbste fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern, verspätet
sich aber eine, so friert sie so, daß sie wie tot zur Erde fällt und
liegen bleibt, wohin sie fällt, und der kalte Schnee seine Decke über
sie breitet.
Däumelieschen schauderte ordentlich, so war sie erschreckt worden, denn
der Vogel war ihr gegenüber, die kaum Daumeslänge hatte, ja so
erschrecklich groß, aber sie faßte doch wieder Mut, legte die Baumwolle
dichter um die Schwalbe und holte ein Krausemünzenblatt, dessen sie sich
selbst als Deckbettes bedient hatte, und legte es über den Kopf des
Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm hinunter, und nun
war er lebendig, aber so matt, daß er nur einen kurzen Augenblick seine
Augen zu öffnen und Däumelieschen anzusehen vermochte, die, weil sie
kein anderes Lämpchen haben konnte, mit einem Stückchen faulen Holzes in
der Hand neben ihm stand.
„Herzlichen Dank, du niedliches kleines Kind!“ sagte die kranke Schwalbe
zu ihr. „Ich bin vortrefflich erwärmt! Bald erhalte ich meine Kräfte
wieder und kann dann draußen im warmen Sonnenschein umherfliegen.“
„Ach!“ sagte sie, „es ist draußen gar kalt, es schneit und friert!
Bleib’ du in deinem warmen Bettchen, ich werde dich schon pflegen!“
Darauf brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatte und diese
trank und erzählte ihr, wie sie sich an einem Dornbusche einen ihrer
Flügel verletzt hätte, weshalb sie nicht mehr so schnell wie die andern
Schwalben zu fliegen vermochte, als dieselben weit weg nach den warmen
Ländern fortzogen. Endlich war sie auf die Erde gefallen, und was
weiteres mit ihr geschehen, wußte sie nicht.
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten und Däumelieschen nahm sich
ihrer auf das Beste an und hatte sie lieb. Weder der Maulwurf noch die
Feldmaus erfuhr das Geringste davon, weil sie die arme Schwalbe nicht
leiden mochten.
Sobald der Frühling kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die
Schwalbe Däumelieschen Lebewohl, die nun das Loch öffnete, welches der
Maulwurf in die Decke gemacht hatte. Die Sonne schien herrlich auf sie
hernieder und die Schwalbe fragte, ob sie sie begleiten wollte, sie
könnte ja auf ihrem Rücken sitzen, und dann wollten sie weit hinaus in
den grünen Wald fliegen. Aber Däumelieschen wußte, daß es die alte
Feldmaus betrüben würde, wenn sie dieselbe auf solche Art verließ.
„Nein, ich kann nicht!“ sagte Däumelieschen. „Lebewohl, lebewohl!
du gutes, liebes Mädchen!“ sagte die Schwalbe und flog hinaus in den
Sonnenschein. Däumelieschen sah ihr nach und die Thränen traten ihr in
die Augen, denn sie hatte die Schwalbe gar lieb.
„Quivit, quivit!“ sang der Vogel und flog hinein in den grünen Wald.
Däumelieschen war sehr betrübt. Sie erhielt nie Erlaubnis, in den warmen
Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Acker über dem Hause
der Feldmaus ausgesäet war, wuchs auch hoch in die Luft empor; für das
arme kleine Mädchen, das kaum Daumeslänge hatte, war es ein völlig
undurchdringlicher Wald.
„Während des Sommers sollst du nun an deiner Aussteuer nähen!“ sagte die
Feldmaus zu ihr, denn nun hatte der Nachbar, der langweilige Maulwurf in
dem schwarzen Sammetpelze, sich um sie beworben.
Däumelieschen mußte nun die Spindel drehen und die Feldmaus nahm vier
Spinnen in Lohn, die Tag und Nacht spinnen und weben mußten. Jeden Abend
kam der Maulwurf auf Besuch und sprach nur immer davon, daß, wenn der
Sommer vergangen, die Sonne nicht mehr so warm scheinen würde, dann
wollte er mit Däumelieschen Hochzeit feiern. Sie war aber gar nicht
vergnügt, denn sie hatte den langweiligen Maulwurf keineswegs lieb.
Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie
unterging, schlich sie sich zur Thür hinaus, und sobald der Wind die
Kornähren auseinander wehte, daß sie den blauen Himmel sehen konnte,
dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen wäre, und wünschte
so sehr, die liebe Schwalbe wiederzusehen; aber die kam nie wieder, die
war gewiß weit fort in den schönen grünen Wald geflogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelieschen ihre ganze Aussteuer
fertig.
„In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!“ sagte die Feldmaus zu ihr.
Aber Däumelieschen weinte und sagte, sie wollte den langweiligen
Maulwurf nicht haben.
„Schnickschnack!“ sagte die Feldmaus, „sei nur nicht widerspenstig,
sonst muß ich dich mit meinen weißen Zähnen beißen.“
Nun sollte Hochzeit sein. Der Maulwurf war schon gekommen, Däumelieschen
zu holen.
„Lebewohl, du klarer Sonnenstrahl!“ sagte sie und streckte die Ärmchen
hoch empor und ging auch eine kurze Strecke vom Hause der Feldmaus fort,
denn nun war das Korn geerntet und nur die dürren Stoppeln standen noch
da. „Lebewohl, Lebewohl!“ sagte sie und schlang ihre Ärmchen um eine
kleine rote Blume, die daneben stand. „Grüße die liebe Schwalbe von mir,
wenn du sie zu sehen bekommst!“
„Quivit, quivit!“ ertönte es in demselben Augenblicke über ihrem Kopfe.
Sie blickte auf, es war die Schwalbe, die gerade vorüberflog. Sobald sie
Däumelieschen gewahrte, wurde sie sehr froh, sie erzählte derselben, wie
ungern sie den garstigen Maulwurf zum Manne nähme und daß sie nun tief
unter der Erde wohnen sollte, wo das Sonnenlicht nie hineinschiene.
„Nun kommt der kalte Winter,“ sagte die Schwalbe, „ich fliege nach den
warmen Ländern fort. Willst du mich begleiten? Du kannst auf meinem
Rücken sitzen! Fliege nur mit mir, du süßes kleines Däumelieschen, die
du mir das Leben gerettet hast, als ich erfroren in dem finstern Schooße
der Erde lag!“
„Ja, ich ziehe mit dir,“ sagte Däumelieschen, und setzte sich auf des
Vogels Rücken, mit den Füßen auf seine ausgebreiteten Flügel, band ihren
Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und nun erhob sich die
Schwalbe hoch in die Lüfte, über Wälder und Seen, hoch hinauf über die
großen Gebirge, wo immer Schnee liegt.
Endlich kamen sie nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit
heller als hier, der Himmel war doppelt so hoch und an den Gräben und
Hecken wuchsen die herrlichsten grünen und blauen Weintrauben. In den
Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen; Myrthen und Krausemünzen
erfüllten alles mit ihrem Duft. Aber die Schwalbe flog immer noch weiter
und es wurde schöner und schöner. Unter den prachtvollsten grünen Bäumen
an dem blauen See stand seit alten Zeiten ein weißes Marmorschloß.
Weinreben rankten sich um hohe Säulen; an der äußersten Spitze waren
viele Schwalbennester und in einem derselben wohnte die Schwalbe, welche
Däumelieschen trug.
„Hier ist mein Haus!“ sagte die Schwalbe. „Suche dir aber selbst eine
der prächtigsten Blumen aus, die da unten wachsen, und ich will dich
dann hinaufsetzen, und dein Los wird so glücklich sein, als du nur
irgend wünschen kannst!“
„O wie herrlich!“ sagte Däumelieschen und klatschte in die kleinen
Händchen.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, welche zur Erde gesunken und in
drei Stücke zerborsten war, zwischen ihnen aber wuchsen die schönsten
großen weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelieschen hinunter und
setzte sie auf eines der breiten Blätter. Aber wer malt ihr Erstaunen:
mitten in der Blume saß ein kleiner Mann, so weiß und durchsichtig, wie
wenn er von Glas wäre. Die niedlichste goldene Krone hatte er auf dem
Kopfe und die prächtigsten hellen Flügel auf den Schultern. Er selbst
war nicht größer als Däumelieschen. Es war der Engel der Blumen. In
jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, dieser aber war
der König über alle.
Der kleine Prinz erschrak gewaltig vor der Schwalbe, denn gegen ihn, der
so klein und fein war, schien sie ein wahrer Riesenvogel zu sein. Als er
aber Däumelieschen gewahrte, ward er gar froh, war sie doch das
allerschönste Mädchen, das er bis jetzt gesehen hatte. Deshalb nahm er
die Goldkrone von seinem Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie
hieße und ob sie seine Gemahlin sein wollte, dann sollte sie Königin
über alle Blumen werden.
Däumelieschen gab dem schönen Prinzen das Jawort, und von jeder Blume
kam eine Dame, oder ein Herr, so allerliebst, daß es eine Lust war.
Jedes brachte Däumelieschen ein Geschenk, aber das beste von allen waren
ein Paar schöne Flügel von einer großen weißen Fliege. Sie wurden
Däumelieschen am Rücken befestigt und nun konnte auch sie von Blume zu
Blume fliegen. Überall herrschte darüber Freude und die Schwalbe saß
oben in ihrem Neste und sang ihnen etwas vor, so gut sie vermochte, aber
im Herzen war sie gleichwohl betrübt, denn sie hatte Däumelieschen gar
lieb und würde sich nie von ihr getrennt haben.
„Du sollst fortan nicht mehr Däumelieschen heißen!“ sagte der Engel der
Blumen zu ihr, „das ist ein häßlicher Name und du bist so schön. Wir
wollen dich _Maja_ nennen!“
„Lebewohl, lebewohl!“ sagte die Schwalbe, und zog wieder fort aus den
warmen Ländern, weit fort nach unserem kalten Himmelsstriche. Dort hatte
sie ein kleines Nest oben an dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen
erzählen kann. Dem sang sie ihr „Quivit, quivit,“ vor. Davon haben wir
die ganze Geschichte.
Die Störche.
[Abbildung/Illustration: pic8.jpg]
Auf dem letzten Hause eines kleinen Dörfchens befand sich ein
Storchnest. Die Storchmutter saß im Neste bei ihren vier Jungen, welche
den Kopf mit dem kleinen schwarzen Schnabel, denn er war noch nicht rot
geworden, hervorstreckten. Ein Stückchen davon stand auf der Dachfirste
starr und steif der Storchvater. Man hätte meinen können, er wäre aus
Holz gedrechselt, so stille stand er. „Gewiß sieht es recht vornehm aus,
daß meine Frau eine Schildwache bei dem Neste hat!“ dachte er. Und er
stand unermüdlich auf einem Beine.
Unten auf der Straße spielte eine Schar Kinder und als sie die Störche
erblickten, sang einer der dreistesten Knaben und allmählich alle
zusammen einen Vers aus einem alten Storchliede, so gut sie sich dessen
erinnern konnten:
Störchlein, Störchlein, fliege,
Damit ich dich nicht kriege,
Deine Frau, die liegt im Neste dein
Bei deinen lieben Kindelein:
Das eine wird gepfählt,
Das andere wird abgekehlt,
Das dritte wird verbrannt,
Das vierte dir entwandt!
„Höre nur, was die Jungen singen!“ sagten die kleinen Storchkinder. „Sie
sagen, wir sollen gebraten und verbrannt werden!“
„Daraus braucht ihr euch nichts zu machen!“ sagte die Storchmutter.
Aber die Knaben wiederholten es immer von Neuem und wiesen mit Fingern
nach dem Storche. Nur ein Knabe, _Peter_ mit Namen, sagte, es wäre eine
Sünde und Schande, sich über die Tiere lustig zu machen, und nahm an
ihrem Unfug nicht Teil. Die Storchmutter tröstete ihre Kinder: „Kümmert
euch nicht darum!“ sagte sie; „seht nur, wie ruhig und unbekümmert euer
Vater dasteht, und zwar auf einem Beine!“
„Uns ist so bange!“ sagten die Jungen und zogen ihre Köpfe in das Nest
zurück.
Als am nächsten Tage die Kinder wieder zum Spielen zusammenkamen und die
Störche erblickten, begannen sie wieder ihr altes Lied:
Das eine wird gepfählt,
Das andere wird abgekehlt! --
„Werden wir wohl gepfählt und verbrannt?“ fragten die Storchkinder.
„Nein, sicher nicht!“ erwiderte die Mutter. „Ihr sollt fliegen lernen;
ich werde euch schon einüben! Dann geht es hinaus auf die Wiese und auf
Besuch zu den Fröschen. Das wird eine Lust werden!“
„Und was dann?“ fragten die Storchkinder.
„Dann versammeln sich alle Störche, die hier im Lande wohnen und darauf
beginnt die große Herbstübung. Da muß man gut fliegen, das ist von
großer Wichtigkeit, denn wer nicht fliegen kann, wird von dem General
mit seinem Schnabel totgestochen. Lernt deshalb nur fliegen, wenn der
Unterricht beginnt!“
„Dann werden wir aber doch gepfählt, wie die Knaben behaupteten, und
höre nur, jetzt sagen sie es schon wieder!“
„Hört auf mich und nicht auf sie!“ sagte die Storchmutter. „Nach der
großen Übung fliegen wir nach den warmen Ländern, weit fort von hier,
über Berge und Wälder. Nach Ägypten fliegen wir, wo es dreieckige
Steinhäuser giebt, die in einer Spitze zusammenlaufen und bis über die
Wolken ragen. Da ist auch ein Fluß, der aus seinen Ufern tritt und das
ganze Land mit Schlamm bedeckt. Man geht im Schlamm und ißt Frösche.“
„O!“ riefen alle Jungen.
„Ja, da ist es wunderbar schön! Man thut den ganzen Tag nichts Anderes
als essen. Und während wir es so gut haben, ist hier zu Lande nicht ein
grünes Blatt auf den Bäumen. Hier ist es so kalt, daß die Wolken in
Stücke gefrieren und in kleinen weißen Läppchen herniederfallen, was
dann die Menschen Schnee nennen.“
„Zerfrieren denn auch die unartigen Knaben in lauter Stücke?“ fragten
die Storchkinder.
„Nein, in Stücke zerfrieren sie nicht, aber es fehlt nicht viel daran
und sie müssen in der dunklen Stube und hinter dem Ofen sitzen.“
Inzwischen war schon einige Zeit verstrichen, und die Jungen waren so
groß, daß sie im Neste aufrecht stehen und sich weit umschauen konnten.
Der Storchvater kam jeden Tag mit wohlschmeckenden Fröschen, kleinen
Schlangen und allen auffindbaren Storchleckereien geflogen.
„Hört, nun müßt ihr fliegen lernen!“ sagte eines Tages die Storchmutter,
und dann mußten alle vier Junge auf die Dachfirste hinaus. O, wie sie
schwankten! Wie sie suchten, sich mit den Flügeln im Gleichgewicht zu
erhalten, und doch nahe daran waren, hinunter zu fallen.
„Seht nun auf mich!“ sagte die Mutter. „So müßt ihr den Kopf halten!
So müßt ihr die Beine setzen! Eins, zwei! eins, zwei! Das wird euch in
der Welt vorwärts bringen!“ Darauf flog sie eine kurze Strecke und die
Jungen machten einen kleinen plumpen Satz. Bums! da lagen sie, denn sie
waren noch zu schwerfällig.
„Ich will nicht fliegen!“ sagte das eine Junge und kroch wieder in das
Nest hinein. „Ich mache mir nichts daraus, nach den warmen Ländern zu
kommen.“
„So willst du also hier im Winter erfrieren? Sollen etwa die Knaben
kommen und dich pfählen, abkehlen und verbrennen? Dann will ich sie
rufen!“
„O nein!“ sagte das Storchkind und hüpfte dann wieder auf das Dach zu
den andern. Den dritten Tag konnten sie schon ordentlich ein wenig
fliegen, und nun meinten sie auch in der Luft schweben zu können.
„Seht, das war sehr gut!“ sagte die Storchmutter; „Ihr sollt morgen mit
mir in den Sumpf fliegen. Dort kommen mehrere nette Storchfamilien mit
ihren Kindern zusammen.“
„Aber sollen wir denn an den unartigen Knaben keine Rache nehmen?“
fragten die Storchjungen.
„Laßt sie schreien, was sie wollen! Ihr erhebt euch doch zu den Wolken
und kommt nach dem Lande der Pyramiden, während sie frieren müssen und
kein grünes Blatt noch einen süßen Apfel haben!“
„Ja, wir wollen uns rächen!“ flüsterten sie einander zu und dann wurde
wieder fleißig geübt.
Von allen Knaben auf der Gasse war keiner ärger, das Spottlied zu
singen, als gerade der, welcher es zuerst angestimmt hatte, und das war
ein ganz kleiner Bursche, denn er zählte sicher nicht mehr als sechs
Jahre. Die Storchkinder meinten freilich, er wäre hundert Jahre, weil er
so viel größer als ihre Mutter und ihr Vater war. Was wußten sie davon,
wie alt kleine und große Kinder sein könnten. Ihre ganze Rache sollte
sich über diesen Knaben ergießen; er hatte ja mit dem Liede den Anfang
gemacht und war dessen noch nicht müde geworden. Die jungen Störche
waren sehr aufgebracht und je größer sie wurden, desto weniger wollten
sie es leiden.
Nun kam der Herbst. Alle Störche versammelten sich allmählich, um gegen
Winter nach den warmen Ländern zu fliegen. Was für eine Übung ging
voraus! Über Wälder und Städte mußten sie, nur um zu sehen, wie gut sie
fliegen könnten, denn es war ja eine große Reise, welche bevorstand.
Unsere jungen Störche machten ihre Sache so hübsch, daß sie die Zensur:
„Ausgezeichnet gut mit Frosch und Schlange“ erhielten. Das war das
allerbeste Zeugnis und den Frosch und die Schlange durften sie essen,
und thaten es auch.
„Nun müssen wir uns rächen!“ sagten sie.
„Jawohl!“ sagte die Storchmutter. „Was ich mir ausgedacht habe, das ist
gerade das Richtige! Ich weiß, wo der Teich ist, in dem alle die kleinen
Menschenkinder liegen, bis der Storch kommt und sie ihren Eltern bringt.
Die niedlichen kleinen Kinder schlafen und träumen so süß, wie sie
nachher nie mehr träumen. Alle Eltern wollen gern so ein kleines Kind
haben, und alle Kinder wollen eine Schwester oder einen Bruder haben.
Nun wollen wir nach dem Teiche hinfliegen und für jedes der Kinder eins
holen, welche das arge Lied nicht gesungen und sich über die Störche
nicht lustig gemacht haben!“
„Aber jener schlimme, häßliche Junge, welcher es zu singen angefangen
hat, was machen wir mit ihm?“
„Im Teiche dort liegt ein kleines, totes Kind, welches sich tot geträumt
hat. Das wollen wir zu ihm hintragen, dann muß er weinen, weil wir ihm
ein totes Brüderchen gebracht haben. Allein dem guten Knaben, den ihr
gewiß noch nicht vergessen habt, dem, welcher meinte: Es ist eine Sünde
und Schande, sich über die Tiere lustig zu machen, dem wollen wir sowohl
ein Brüderlein, als auch ein Schwesterlein bringen, und da der Knabe
_Peter_ heißt, so sollt ihr sämtlich Peter gerufen werden!“
Und wie sie es gesagt hatte, geschah es. Seitdem hießen alle Störche
_Peter_ und werden noch heute so genannt.
Der fliegende Koffer.
[Abbildung/Illustration: pic11.jpg]
Es war einmal ein Kaufmann, der so reich war, daß er die ganze Straße
und beinahe noch ein Seitengäßchen mit lauter harten Thalern pflastern
konnte. Allein das that er nicht, er wußte sein Geld anders anzuwenden.
Gab er einen Dreier aus, bekam er einen Thaler wieder. Aber er mußte
doch sterben und sein Sohn bekam nun all dies Geld und er lebte lustig,
ging jede Nacht auf Maskenbälle, machte Papierdrachen aus Thalerscheinen
und so konnte das Geld schon abnehmen und that es auch.
Zuletzt besaß er nicht mehr als wenige Groschen und hatte keine andern
Kleider als ein Paar Pantoffeln und einen alten Schlafrock. Nun
bekümmerten sich seine Freunde nicht länger um ihn, da sie sich ja mit
ihm zusammen nicht auf der Straße sehen lassen konnten; nur einer von
ihnen, ein gutmütiger Mensch, sandte ihm einen alten Koffer und ließ ihm
sagen: „Pack ein!“ Ja, das war nun wohl recht gut, aber er hatte nichts
einzupacken und deshalb setzte er sich selbst in den Koffer.
Das war ein absonderlicher Koffer. Sobald man an das Schloß drückte,
konnte er fliegen. Er that es und husch! flog er mit ihm durch den
Schornstein, über die Stadt hinweg, hoch hinauf bis über die Wolken,
weiter und immer weiter fort.
Endlich kam er nach dem Lande der Türken. Den Koffer verbarg er im Walde
unter dürren Blättern und ging dann in die Stadt hinein. Das konnte er
recht wohl thun, denn bei den Türken ging ja alles wie er in Schlafrock
und Pantoffeln. Da begegnete er einer Frau und fragte sie: „Was ist das
für ein großes Schloß hier unmittelbar bei der Stadt, dessen Fenster so
hoch sitzen?“
„Dort wohnt die Tochter des Königs!“ sagte sie, „es ist ihr geweissagt
worden, daß sie einstmals über ihren Bräutigam sehr unglücklich werden
würde und deshalb darf niemand zu ihr kommen, wenn nicht der König und
die Königin zugegen sind!“
„Ich danke!“ sagte der Kaufmannssohn und dann ging er in den Wald
hinaus, setzte sich in seinen Koffer, flog auf das Dach des Schlosses
und kroch durch das Fenster zur Prinzessin hinein.
Sie lag auf dem Sofa und schlief; sie war so lieblich, daß er sie küssen
mußte. Sie erwachte und erschrack heftig, er aber sagte, er wäre der
Türkengott, der durch die Luft zu ihr gekommen wäre und das schmeichelte
ihr.
Da saßen sie nun Seite an Seite und er erzählte ihr Märchen und
Geschichten.
Ja, das waren herrliche Geschichten! Dann freite er um die Prinzessin
und sie sagte sogleich ja.
„Aber Sie müssen den Sonnabend herkommen, da ist der König und die
Königin bei mir zum Thee. Sie werden sehr stolz darauf sein, daß ich den
Türkengott bekomme. Aber sorgen Sie dafür, daß Sie ein recht schönes
Märchen erzählen können, denn das gewährt meinen Eltern die angenehmste
Unterhaltung. Meine Mutter hört gern ernste und vornehme, und mein Vater
lustige, über die man lachen kann.“
„Ja, ich bringe keine andere Brautgabe, als ein Märchen!“ und dann
trennten sie sich; aber die Prinzessin gab ihm einen mit Goldstücken
besetzten Säbel, und die Goldstücke konnte er besonders gebrauchen.
Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock, ließ seinen Koffer
recht schön herrichten, setzte sich dann draußen in den Wald und
dichtete ein Märchen. Das sollte bis zum Sonnabend fertig sein und das
war nicht so leicht. Als es nun fertig war, siehe da war es gerade
Sonnabend.
Der König, die Königin und der ganze Hof warteten bei der Prinzessin mit
dem Thee. Als der Kaufmannssohn nun angeflogen kam, wurde er sehr
freundlich empfangen.
„Wollen Sie nun ein Märchen erzählen!“ sagte die Königin, „eins, welches
tiefsinnig und belehrend ist!“
„Aber worüber man auch lachen kann!“ sagte der König.
„Jawohl!“ sagte er und erzählte nun folgendes:
„Es war einmal ein Bund Schwefelhölzer, die sich auf ihre hohe Abkunft
was einbildeten. Ihr Stammbaum, das heißt die große Fichte, von der
jedes ein kleines, kleines Stückchen war, stand als ein großer alter
Baum im Walde. Die Schwefelhölzer lagen nun auf dem Gesimse zwischen
einem Feuerzeuge und einem alten eisernen Topfe und diesen erzählten sie
von ihrer Jugend. „Ja, als wir auf dem grünen Zweige waren,“ sagten sie,
„da waren wir wahrlich auf einem grünen Zweige. Jeden Abend und Morgen
gab es Diamantthee, das war der Tau, den ganzen Tag hatten wir
Sonnenschein, wenn nämlich die Sonne schien und alle die kleinen Vögel
mußten uns Geschichten erzählen. Wir konnten recht gut merken, daß wir
auch reich waren, denn die Laubbäume waren nur im Sommer bekleidet, aber
unsere Familie hatte die Mittel, für Sommer und Winter grüne Kleider
anzuschaffen. Nun aber kamen Holzhauer und es entstand eine große
Umwälzung; unsere ganze Familie zersplitterte sich. Der Stammherr
erhielt als Hauptmast Platz auf einem prächtigen Schiffe, das die Welt
umsegeln konnte, wenn es wollte. Den anderen Zweigen wurden andere
Stellen eingeräumt und wir haben nun die Aufgabe, der niederen Menge das
Licht anzuzünden.“
„Ich weiß ein anderes Lied zu singen!“ sagte der Eisentopf, an dessen
Seite die Schwefelhölzer lagen. „Seit ich das Licht der Welt erblickte,
bin ich viele mal gescheuert und gekocht worden. Ich sorge für das
Dauerhafte und bin, eigentlich gesprochen, der erste hier im Hause.
Meine einzige Freude ist, nach Tische rein und fein auf dem Gesimse zu
liegen und mit den Kameraden vernünftig zu plaudern. Nehme ich aber den
Wassereimer aus, der doch bisweilen auf den Hof hinunter kommt, so leben
wir hier immer hinter zugemachten Thüren. Unser einziger Neuigkeitsbote
ist der Marktkorb, aber der redet zu aufrührerisch über die Regierung
und das Volk.“
„Nun sprichst du zu viel!“ sagte das Feuerzeug und der Stahl schlug
gegen den Feuerstein, daß Funken sprühten. „Wollen wir uns nicht einen
lustigen Abend machen?“
„Ja, lasset uns davon sprechen, wer der Vornehmste ist!“ sagten die
Schwefelhölzer.
„Nein, ich spreche nicht gern von mir selber!“ versetzte der Thontopf.
„Ich schlage eine Abendunterhaltung vor. Ich will den Anfang machen und
etwas erzählen; jeder teilt mit, was er erlebt hat. Da kann man sich so
trefflich hineinfinden und es ist sehr lustig! Also hört: An der Ostsee
bei den dänischen Buchten brachte ich meine Jugend bei einer stillen
Familie zu; die Möbel wurden poliert, der Fußboden aufgewischt und alle
vierzehn Tage wurden neue Vorhänge aufgesteckt!“
„Wie anschaulich Sie doch erzählen!“ sagte der Haarbesen. „Man kann
gleich hören, daß ein Frauenzimmer erzählt; es zieht sich etwas
Reinliches hindurch!“
„Ja, das fühlt man!“ sagte der Wassereimer und machte einen Satz, daß es
auf dem Boden nur so klatschte!
Der Topf fuhr fort zu erzählen und das Ende entsprach dem Anfange.
Alle Teller klirrten vor Freude und der Haarbesen zog grüne Petersilie
aus dem Sandloche und bekränzte den Topf, weil er wußte, er würde die
andern dadurch ärgern und „bekränze ich ihn heute,“ dachte er, „so
bekränzt er mich morgen!“
„Nun will ich tanzen!“ sagte die Feuerzange und tanzte. „Werde ich nun
auch bekränzt?“ fragte die Feuerzange und sie wurde es.
„Das ist doch nur Pöbel!“ dachten die Schwefelhölzer.
Nun sollte die Theemaschine singen, aber sie entschuldigte sich mit
Erkältung; auch könnte sie nur in kochendem Zustande singen, aber es
geschah eigentlich aus lauter Vornehmthuerei; sie wollte nur auf dem
Tisch drinnen bei der Herrschaft singen.
Im Fenster saß eine alte Feder, mit der die Magd zu schreiben pflegte.
Es war nichts Bemerkenswertes an ihr, ausgenommen, daß sie zu tief in
das Tintenfaß getaucht war, aber gerade darauf that sie sich etwas zu
Gute. „Will die Theemaschine nicht singen,“ sagte sie, „so mag sie es
bleiben lassen. Draußen sitzt im Bauer eine Nachtigall, die singen kann;
sie hat zwar nichts gelernt, aber gleichwohl wollen wir ihr das heute
Abend nicht übel auslegen!“
„Ich finde es im höchsten Grade unpassend,“ äußerte der Theekessel, der
das Amt eines Küchensängers bekleidete und ein Halbbruder der
Theemaschine war, „daß ein fremder Vogel angehört werden soll. Ist das
patriotisch? Ich fordere den Marktkorb auf, darüber sein Urteil
abzugeben!“
„Ich ärgere mich nur!“ sagte der Marktkorb, „ich ärgere mich so sehr,
wie es sich niemand vorstellen kann! Würde es nicht weit vernünftiger
sein, das ganze Haus einmal auf den rechten Fleck zu setzen? Jeder
sollte dann schon den ihm gebührenden Platz erhalten, und ich würde die
ganzen Anordnungen treffen!“
„Ja, laßt uns Lärm machen!“ riefen sie sämtlich. Plötzlich ging die
Thüre auf. Es war das Dienstmädchen, und nun standen sie still und
wagten nicht Muck zu sagen. Aber da war kein Topf, der nicht ein Gefühl
seiner Macht und Würde gehabt hätte. „Ja, wenn ich nur gewollt hätte,“
dachte ein jeder, „dann würde es sicher einen lustigen Abend gegeben
haben!“
Das Dienstmädchen nahm die Schwefelhölzer und machte Feuer mit ihnen an
-- Gott bewahre uns, wie sie sprühten und aufflammten.
„Nun kann ein jeder sehen, daß wir die ersten sind!“ dachten sie.
„Welchen Glanz, welches Licht wir haben!“ -- und nun waren sie
ausgebrannt. Und nun ist auch meine Geschichte aus.“
„Das war ein herrliches Märchen!“ sagte die Königin. „Ich fühlte mich im
Geiste ganz zu den Schwefelhölzern in die Küche versetzt. Ja, nun sollst
du unsere Tochter haben!“
„Jawohl!“ sagte der König, „du sollst unsere Tochter den Montag
bekommen!“ denn nun sagte er zu ihm, als zu einem künftigen
Familiengliede, „du“.
Die Hochzeit war also festgesetzt und den Abend vorher wurde die ganze
Stadt erleuchtet; es war außerordentlich prachtvoll.
„Ich muß wohl auch daran denken, mein Scherflein zu den Feierlichkeiten
beizutragen!“ dachte der Kaufmannssohn, und nun kaufte er Raketen,
Knallerbsen und alles erdenkliche Feuerwerk, legte es in seinen Koffer
und flog damit in die Luft empor.
Rutsch! ging es in die Höhe und verpuffte unter vielem Lärm.
Alle Türken hüpften dabei in die Höhe, daß ihnen die Pantoffeln um die
Ohren fuhren. Dergleichen Lufterscheinungen hatten sie niemals gesehen.
Nun sahen sie ein, daß es der Türkengott selber war, der die Prinzessin
bekommen sollte.
Sobald sich der Kaufmannssohn mit seinem Koffer wieder in den Wald
hinabgelassen hatte, dachte er: „Ich will doch in die Stadt gehen, um
mir berichten zu lassen, wie es sich ausgenommen hat.“ Man kann sich
wohl zusammenreimen, daß er Lust dazu hatte.
Nein, was ihm die Leute doch alles erzählten! Ein jeder, bei dem er sich
erkundigte, hatte es in seiner Weise gesehen, aber einen prächtigen
Eindruck hatte es auf alle gemacht.
„Ich sah den Türkengott selbst!“ erzählte der eine, „er hatte Augen wie
blitzende Sterne und einen Bart wie schäumendes Wasser!“
„Er flog in einem feurigen Mantel,“ berichtete ein anderer.
Ja, das waren vortreffliche Sachen, die er zu hören bekam, und den Tag
darauf sollte er Hochzeit haben.
Nun ging er nach dem Walde zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen --
aber wo war der? Der Koffer war verbrannt. Ein Funke war von dem
Feuerwerk zurückgeblieben, der Feuer gefangen und den Koffer in Asche
gelegt hatte. Er konnte nicht mehr fliegen, nicht mehr zu seiner Braut
gelangen.
Sie aber stand den ganzen Tag auf dem Dache und harrte seiner. Sie
wartet noch, er aber durchzieht die Welt und erzählt Märchen, die jedoch
nicht mehr so lustig sind, wie das von den Schwefelhölzchen.
Der Schneemann.
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„Es knackt und prasselt in mir, so schön kalt ist es!“ sagte der
Schneemann. „Der eisige Wind bringt einem fürwahr Leben in die Glieder.
Und sieh nur, wie die große Lampe da oben verglüht!“ Er meinte die
untergehende Sonne. „Sie soll mich nicht zum Blinzeln bringen, ich halte
meine Bruchstücke schon noch zusammen.“
Es waren zwei große dreieckige Dachziegelstücke, die ihm als Augen
dienten. Sein Mund war ein Stück von einer alten Harke, weshalb derselbe
auch Zähne hatte.
Er war unter Hurrahruf der Knaben geboren, begrüßt von dem
Schellengeläute und dem Peitschengeknall der Schlitten.
Die Sonne ging unter, der Vollmond ging auf, rund und groß, klar und
schön in der blauen Luft.
„Nun haben wir sie wieder von einer andern Seite,“ sagte der Schneemann.